Frau E. hatte einen Auftrag. Und das am frühen Morgen. „So gar nicht meine Zeit“, dachte Frau E.
Aber so ist das nun mal, wenn man sich auf einen Workshop eingelassen hat. Das Erste, was man nach dem Aufwachen sieht, sollte man fotografieren, lautete die Hausaufgabe. Nun dann.
Mit dem Handy hatte Frau E. zwar einen Vertrag, aber mit dem Fotografieren eher nicht. Und jetzt saß sie auf dem Klo. Es war noch viel zu früh und Frau E. war müde, als sie sich erinnerte, da war doch noch was. Ach ja, das Foto. Mist, das hatte sie vergessen. Aber gehorsam, wie sie war, ja das konnte Frau E. auch mal sein, holte sie nach dem Toilettengang ihr Handy, dass sie kaum erkannte, so verknautscht wie sie sich gerade fühlte. Sie zückte es, bereit für ihr 1. Foto und blickte durch das geöffnete Fenster
Und sah….
eine sehr hässliche Steinmauer. Eingezwängt, oder gehalten(?) in einem grauen unansehnlichen Stacheldraht. Die Mauer war ihr gestern gar nicht aufgefallen, als sie aus ihrem Fenster in den meditativen Garten gesehen hatte. Sie hatte einfach den frischen Wind auf ihrer Haut genossen. Und das Plätschern eines Brunnes gehört.
Mist, sagte Frau E. sehr laut. Mist. Sie ärgerte sich und bekam schlechte Laune. Sehr schlechte Laune und zusätzlich noch ein beklemmendes Gefühl. „Warum habe ich nicht den ersten Sonnenstrahl gesehen, oder Sterne am Himmel oder sonst etwas Liebliches. Nein, diese Mauer musste es sein“, schimpfte Frau E. sich selber aus.
Verärgert legte sie sich wieder ins Bett und versuchte weiter zu schlafen, was ihr nicht gelang. So öffnete sie ihre Augen und sah einen Stecker, der an einem langen Kabel in einer Steckdose steckte. Das Kabel lag entspannt auf dem Boden und dennoch konnte es, an einer Lampe angeschlossen, Licht spenden. Schön, dachte Frau E. schön, wenn man an so einer Kraftquelle angeschlossen ist. Und zückte ihr Handy und machte ein Foto.
Wenn das mein 1. Foto gewesen wäre, seufzte sie, dann ginge es mir viel besser. Aber war es eben nicht.
Die Seminarleitung lächelte, als Frau E. ihr diese Geschichte erzählte. Wer sagt denn, dass man sich immer an die Regel halten muss? Du hast immer die Erlaubnis aus der Vielfalt der Bilder das auszusuchen, was dich jetzt anspricht, gefällt oder dir gut tut, zwinkerte sie Frau E. zu. Manchmal ist die 2 Wahl einfach die Bessere:)
Frau E. war sprachlos. Auf diese Idee war sie noch nie gekommen. Wirklich noch nie. Aber sie war ja auch gerade erst 61 und noch lernfähig, zum Glück.
Beherzt und mit einem Schuss Humor nahm Frau E. ihr Handy und löschte das 1. Bild.
Schließlich hatte sie die Wahl.
Herzliche Grüße Elke